Markus Heitz

DIE SCHWARZE KÖNIGIN – 3.Teaser

Tschechische Republik, auf der Fahrt in die Stadt Melnik, Gegenwart, Winter

Immerhin mochten ihm die Archive von Mělník die günstige Gelegenheit bieten, schon mehr über die Drăculești zu erfahren, um sich vorzubereiten, so gut es ging. Es würde noch andere Waffen geben als unhandliche Holzpfähle.
Mit der Professorin besaß er eine vorzügliche Verbündete. Ihre Neugier bezüglich seiner Abstammung wollte Len nutzen. Vielleicht konnte er sie dazu bringen, Literatur und Aufzeichnungen über die Drăculești ausfindig zu machen und nicht nur über die Schwarze Königin zu forschen. Ohne sie und ihre Sprachkenntnisse wäre jede Suche in mittelalterlichen, multilingualen Quellen sinnlos.
Dahindösend erwuchsen Traumgebilde in Lens Verstand. Die zahlreichen volkstümlichen, mitunter grausamen Geschichten über die Schwarze Königin erschufen wunderschön-erschreckende Bilder in seinem Kopf.
Eine attraktive Frau, mit langen schwarzen Haaren und in majestätische, dunkle Kleidung gehüllt, trat aus weißem Nebel und schwebte über opalblauem Wasser. Ihr Blick richtete sich auf Len, während um sie herum verschiedene Tiere erschienen und sich hinter ihr versammelten wie eine Armee. Wolf, Luchs, Wildkatze, Dachs, Marder, Hirsch und Bär funkelten den jungen Mann wütend an.
Dann hob die Frau den linken Arm, der in einem überlangen, schwarzen Handschuh steckte. Wie aus dem Nichts erschien auf dem Handrücken ein großer, nachtdüsterer Rabe mit bläulichroten Augen. Der blutige Schnabel öffnete sich zu einem todverheißenden Krächzen.
Das opalblaue Wasser lief ab, und zu den Füßen der Frau wurde ein Leichenstapel sichtbar. Die Kadaver zeigten Kratzer und Hackspuren im Gesicht, sämtliche Augen waren herausgepickt.
Da breitete der finstere Rabe die Schwingen aus und stieß sich von der Hand der Schwarzen Königin ab. Len hob die Arme zur Abwehr und schloss die Lider – um sich mit dem nächsten Blinzeln auf der Spitze eines Turmes hoch über einer Stadt wiederzufinden.
Vor ihm stand die Schwarze Königin, der majestätische Stoff wehte in einem beständigen Wind, der auch mit ihren dunklen Haaren spielte.
„Ich habe genug von dir, mein Geliebter. Gehe zu den anderen, derer ich überdrüssig wurde.“ Noch ehe Len etwas erwidern oder tun konnte, berührte sie ihn an der Brust und stieß ihn von der höchsten Zinne.
Die Stadt und der gepflasterte Boden rasten heran.
Plötzlich war der Rabe wieder da und hackte krächzend auf sein Gesicht ein, die Krallen schrammten über die Haut, zerrissen sie.
„Herr Lenau?“, drang die Stimme der Professorin in seinen dämmernden Verstand.
„Ja?“ Mühsam hob er die schweren Lider und rieb sich die Augen. Der Rabe war verschwunden und seine Pupillen unbeschädigt. Sein Herz klopfte immer noch rasch. „Sind wir da?“…

DIE SCHWARZE KÖNIGIN (Mittelalterteil), von Markus Heitz, Knaur Verlag.
ET: 21.8.2023