Markus Heitz

Eine Weihnachtsgeschichte…

… viel Spaß damit!
Frohe Festtage, einen guten Rutsch und … ein … irgendwas mit 2022, aber in schön! 😀

….

Das gefundene Geschenk

Als Myriam die Tür öffnete, um ihren Sohn Aaron hereinzulassen, wunderte sie sich. Der Drittklässler hielt strahlend einen großen viereckigen Karton in rotem Lackgeschenkpapier in den Händen, der fast so groß war wie er. „Nanu? Gab es am letzten Schultag vor Weihnachten eine Überraschung vom Christkind? Das ist aber nett von eurer Klassenlehrerin.“
„Nein. Das habe ich gefunden“, krähte er.
„Gefunden. Wo?“
„Auf der Straße. Das lag auf dem Trottoir im Schnee.“ Aaron pochte mit einer Hand dagegen, und ein hohler Ton erklang. „Und es ist für mich.“
Das wagte Myriam zu bezweifeln. „Zeig mal her.“
„Nein“, rief er entsetzt. „Das hat das Christkind für mich hingelegt! Es wusste doch, dass ich da lang gehe.“
„Steht dein Name drauf, Schatz?“
„Ja“, kam es bockig, und er drehte eine Seite nach vorne. In krakeliger Handschrift prangte AARON drauf. „Guck!“
Myriam lächelte wissend und nahm ihm das Päckchen ab. „Das hat du geschrieben, Schatz.“ Es war erstaunlich leicht, und etwas rappelte darin. Styropor? „Das gehört uns nicht.“
„Aber es sollte zu mir kommen!“, heulte Aaron auf und stampfte mit dem Fuß. „Das hat mir das Christkind hingelegt“, beharrte er nach wie vor und streckte die Arme nach dem Karton aus, fuchtelte herum wie in einem Slapstick-Film.
„Jetzt komm rein. Raus aus den Schuhen und der Jacke. Es gibt gleich Essen.“ Myriam bugsierte ihren Sohn mit dem Knie und viel Liebe in die Diele und trug den Karton derweil in den Vorratsraum, um ihn in Ruhe betrachten zu können.
Abgesehen von Aarons gefälschter Zustelladresse, gab es keine Anhänger, Aufkleber oder nicht irgendeinen Hinweis auf Absender oder wahren Empfänger. Also löste sie einen der Klebstreifen behutsam, um das auffällige Geschenkpapier zu entfernen und den Karton darunter zu inspizieren.
Leise knisternd löste sich der Streifen, und die rote Lackfolie klappte ein wenig auf.
Darunter kam ein neutraler weißer Plastikkasten zum Vorschein, auf dem die Ausläufer eines geschwungenen, gelb-schwarzen Symbols zu erkennen waren. „Ah, die Herstellerfirma.“ Sie öffnete die Folie – und starrte auf das komplette Zeichen sowie die Aufschriften ringsherum. „Oh, scheiße.“
„Scheiße sagt man nicht“, petzte Aaron hinter ihr. „Piiioooohassssart“, las er das Wort. „Mama, ist das Bio? Ist das was mit Harz? Das ist völlig falsch geschrieben. Meine Lehrerin würde das rot durchstreichen.“
„Nein, Schatz“, sagte sie mit trockenem Mund. „Das heißt Biohazard. Auf Englisch.“
„Ach so. Ist das ein Spielzeug?“, fragte er begeistert.
„Nein.“
„Mh. Wie blöd.“ Aaron zog eine Schnute und überlegte. „Und was kann Piohassart?“
Myriam sah auf den Totenkopf darunter, gefolgt von einem Barcode und einer Zahlenkombination. „Schatz“, sprach sie beherrscht langsam, um nicht auszurasten. „Wo. Hast du. DAS! Gefunden?“
„Na, auf dem Schulw – oh, volllll coooool! Ein Totenschädel!“, schwenkte Aaron beim Anblick des zweiten Symbols um. „Boah, ist das von Skeletor? Sein neues Schloss Piohassart?“
„War Biohazard nicht eine Metalband?“, erklang die Stimme ihres Mannes Daniel, der in Sweater und Turnhosen um die Ecke schaute. Er war eben aus der Dusche gestiegen. „Was ist denn hier …?“ Der Blick fiel auf den Kasten mit den bedrohlichen Aufdrucken, danach auf Myriams aschfahles Gesicht. „Ist das ein Scherz?“
Sie schüttelte wie in Zeitlupe den Kopf.
„Ich hab‘s gefunden“, sagte Aaron sofort stolz. „Ich darf‘s behalten. Das ist … wie Treibgut. Oder die verstreute Ladung nach einem Schiffsuntergang am Strand. Das haben wir in der Schule gelernt.“
Myriam und Daniel sahen sich an. Sie bekam noch mehr Panik in den Augen, er schüttelte warnend den Kopf, damit sie nicht eskalierte und ausflippte. Nicht vor dem Sohn.
„Nein, Schatz, das gehört …jemand.“ Myriam begriff, dass die Verpackung kein Geschenkpapier, sondern imprägnierte Kunststofffolie zum Transportschutz gewesen war. „Weißt du was? Wir legen es wieder dahin, wo du es herhast.“
„Nein!“ Aaron verschränkte die Arme vor der Brust und sah irgendwie niedlich aus.
„Aber das Kind, das das Geschenk bekommen soll, kriegt sonst nix. Dann ist es traurig. Willst du das?“, versuchte sie es pädagogisch-druckvoll.
„Ich will das Piohassart-Schloss von Skeletor“, blieb er nach wie vor versessen auf das Paket.
Da klingelte es.
Wieder sahen sich Myriam und Daniel an. Sie bekam noch mehr fürchterliche Panik, er schüttelte noch heftiger warnend den Kopf wie ein Wackeldackel auf der Handschuhablage eines Rallyefahrzeuges beim Querfeldeinrennen.
„Ich mach auf!“ Aaron rannte wie der Blitz zum Eingang, noch bevor ihn jemand aufhalten konnte. „Ist vielleicht das Christkind, das sein Paket sucht. Wir können Finderlohn rausholen! Wie bei Treibgut!“
Daniel und Myriam spurteten hinterher. „Nein, warte!“, kam es gleichzeitig aus ihren Mündern.
Ihr Sohn riss erwartungsvoll die Tür auf.
Davor standen drei Leute in geschlossenen gelben Chemieschutzanzügen, deren Gesichter hinter Plexiglasvisieren lagen. Die Hazmat-Brigade war eingetroffen.
„Guten Tag, Familie Schnülzke“, sagte der vordere und winkte mit seinen blauen Gummihandschuhen. „Schön, Sie noch gesund und munter kennenzulernen.“ Seine Kollegin hob einen knackenden, knarrenden Geigerzähler und deutete auf den Vorratsraum. „Sie haben da was, das uns gehört.“
„Wieso … wieso denn radioaktiv?“, stammelte Myriam. „Es stand doch Biohazard auf dem Karton?“ Dass sie sich damit verriet, spielte auch keine Rolle mehr.
„Ja. Auf der einen Seite. Auf der anderen finden Sie das Radioaktivzeichen“, sprach der Dritte. „Verstrahlte Futisamorien, Frau Schnülzke. Die Ihr Sohn wohl mitgenommen hat. Wenn ich mir die Strahlungswerte an ihm so anschaue.“
Aaron stand noch immer auf der Schwelle und drehte den Kopf. „Was sind Strahlungswerte, Mama?“
„Die entstehen durch den Transport durchs Weltall“, erklärte der vordere Mann freundlich. „Der Weihnachtsmann ist lange durch Zeit und Raum unterwegs, weißt du?“
„Um was zu bringen? Alieneier?“, sagte Daniel und zog seinen Sohn zu sich. „Wer sind Sie überhaupt?“
„Nein, es sind Futisamorien, wie ich schon sagte. Und das sind Doktor Kasper, Doktorin Melchior, und ich bin Professor Balthasar“, stellte der vordere sich und seine Kollegen vor. „Wir sind vom Internationalen Institut zur Generellen Paketgefahrenabwehr.“ Er tippte sich auf den Ausweis auf der Schutzkleidung. „Es geht um eingeschleppte Fremdgeschenke oder vertauschte Zustellungen.“ Er deutete auf die Vorratskammer. „Wie Ihres. Die verstrahlten Futisamorien. Widerliche kleine Biester. Anfangs. Aber ich kann Ihnen sagen: uiuiui. Sie wollen nicht in der Nähe sein, wenn DIE wachsen.“
„Sie verarschen uns doch!“, brauste Daniel auf. „Das ist verstecke Kamera, oder?“
„Fünfzehn“, sagte Melchior und senkte den Geigerzähler, um ihn gegen etwas auszutauschen, das an eine Kreuzung aus Protonenstrahler der Ghostbusters und einen Flammenwerfer erinnerte.
„Fünfzehn?“, echote Myriam alarmiert. „Was fünfzehn?“
„Dann setzt die Reaktion der Futisamorien ein.“ Balthasar deutete auf die rote Lackfolie. „Sie haben die Schutzhülle entfernt. Damit dringt terranisches UV-Licht an den Kasten, und das hat den Vorgang aktiviert.“
„Welcher Vorgang, verdammt?“, schrie Daniel und machte ostentativ Platz. „So, ich habe genug: Sie gehen jetzt in den Vorratsraum und holen das Paket. Weg damit!“
„Elf“, kam es von Melchior, die mehrere Schalter an der Vorrichtung betätigte. Ein bedrohliches Summen erklang vom Gerät.
„Der Weihnachtsmann hat ein Päckchen verloren, das nach Andromeda IV geliefert werden sollte.“ Balthasar streichelte Aarons Kopf und verwuschelte aggressiv die braunen Haare. „Dieser kleine Racker war schneller als wir.“
„Fünf“, kam es von Melchior. Kasper machte zwei Schritte zurück, um Handzeichen in die Höhe zu geben. Ein leises Rauschen erklang von oben, das sich rasch steigerte. Wind kam auf und wehte den Schnee im Vorgarten auf.
„Was hat das zu bedeuten?“, schrie Myriam gegen das Tosen und Dröhnen an. Die Böen schleuderten Schnee hinein.
„Dass es zu spät ist.“ Balthasar nickte ihnen zu und schubste Aaron samt Daniel weiter zurück in den Flur. „Sie sind bereits zu kontaminiert. Die Futisamorien-Kapsel im Innern der Box ist aufgetaut. Es tut mir leid. Sie werden jetzt mit dem Paket zusammen zugestellt, Familie Schnülzke. Als Dreingabe.“
„Was? Sind Sie irre? Was ist das für ein Scheiß hier?“ Daniel wollte den Mann packen, der aber nach hinten sprang und die Tür zuknallte.
Gleichzeitig sagte Melchior „null“ und drückte ab, während aus dem Vorratsraum ein schrilles, hohes Quieken erklang. Etwas rumpelte und raschelte in der Kiste, regenbogenfarbene Strahlen waberten aus der Mündung des Geräts und glitten über die Fassade.
„Ich wünsche Ihnen viel, viel Spaß auf Andromeda IV. Sie werden sich schnell einleben. Aber denken Sie dran, Familie Schnülzke: Sie sind Teil eines Geschenks und vom Umtausch ausgeschlossen. Sollte Sie der Empfänger wegen Nichtgefallens zurücksenden wollen, werden Sie vernichtet.“ Balthasar trat noch weiter zurück und wedelte mit den Armen, um seine Kollegin und seinen Kollegen zur Vorsicht zu mahnen. „Geben Sie sich Mühe, ja?“ Er winkte mit seinen blauen Gummihandschuhhänden. „Schüss, Aaron!“
Aaron winkte mit offenem Mund zurück.
Dann tauchte das Haus von oben in grelles Licht wie von tausend Scheinwerfern. Myriam, Daniel und Aaron wurden unvermittelt schwerelos, bevor sie gemeinsam mit ihrem Heim abhoben und ruckartig beschleunigt wurden.

Kaspar, Melchior und Balthasar schalteten die Automatik der Schutzanzüge aus. Mit leisem Knistern wandelten sich die Hazmat-Outfits zu herkömmlicher Bauarbeiterkleidung.
Das Trio hielt Klemmbrett, Vermessungsgerät und Tabletcomputer in der Hand. Routiniert begann es mit der Vermessung der leeren Parzelle, auf der  bis vor wenigen Sekunden noch das Haus der Schnülzkes gestanden hatte. Mit den Schnülzkes darin.
Ein, zwei Passanten wunderten sich im Vorbeigehen über den freien Fleck inmitten des begehrten Neubaugebietes, fragten aber nichts.
„Gute Lage“, sagte Melchior zufrieden. „Das bekommen wir leicht verkauft.“
„Hab schon bei der Stadtverwaltung angerufen. Geht alles klar“, meldete Caspar. „Sie bereiten die passenden Unterlagen vor.“
„Irgendwie tragisch. Mal wieder“, befand Balthasar nachdenklich. „Kann er nicht einmal auf seine scheiß Pakete aufpassen?“
„Na ja, er ist eben der einzige interstellare Paketzusteller für Festtage. Da kann das passieren. Bei der Menge an Geschenken und Galaxien und so.“ Melchior nahm sein summendes Handy heraus. „Wenn man vom Santa spricht.“ Er nahm den Anruf entgegen. „Ah, noch eins verloren? Zwei Straßen weiter? Und es hat jemand ins Hochhaus mitgenommen?“ Melchior sah mit erhobenen Augenbrauen zu Kollege und Kollegin. „Verstehe. Wir sagen der Stadtverwaltung Bescheid. Erneut.“
Caspar seufzte. „Der Job macht mich echt fertig.“
„Welcher Idiot wünscht sich auch Futisamorien?“, murmelte Melchior.
„Hilft nix. An die Arbeit“, scheuchte Balthasar sie. „Los, los, mit Glück haben sie die rote Schutzfolie noch nicht abgemacht.“
Das Trio eilte los.

Und wenn Sie in nächster Zeit einen Bautrupp oder ein Vermessungsteam sehen, seien Sie gewarnt: Diese Sache mit den verlorenen Paketen geschieht öfter als gedacht. Das ganze Jahr über. Denn irgendwo in den Universen ist immer ein Fest, und jemand wartet eben auf sein Geschenk.
Daher: Finger weg von umherliegenden, fremden Boxen. Es könnten Futisamorien drin sein.